Isabella Sommer: Die Phonola – ein gesellschaftlich und musikhistorisch relevantes Medium zur Zeit des Ersten Weltkriegs
1. Bedeutung der Phonola
Um 1911 verfügte Hupfeld in Leipzig als größte Fabrik für selbstspielende Klaviere mit über 1.500 Mitarbeitern und 300 Betriebsmaschinen über ein weltweites Vertriebssystem.
Der Erfolg der Phonola begründete sich im breiten Repertoire der Notenrollen: dieses umfasste Klaviermusik, Kammermusik, Sinfonien, Operetten, Salonmusik, Tanzmusik, Schlager, Volksmusik, Militärmusik und patriotische Lieder. Die Notenrollen konnten zudem auch in Notenrollen-Leihanstalten (z. B. ab 1903 in der Wiener Hupfeld-Filiale auf der Mariahilferstraße) ausgeborgt werden. Die Notenrolle lieferte die neuesten Musikstücke, die – zum Teil auch von berühmten Pianisten eingespielt – auf der Phonola zuhause sogleich abgespielt werden konnten. Heute sind diese überlieferten Musikstücke auf Notenrolle eine wichtige Quelle für Forschungen zur Musikrezeption und zum Musikgeschmack vor 100 Jahren.
Der im September 1912 veröffentlichte Haupt-Katalog für Phonola 73 (das am meisten verbreitete System) umfasst allein ca. 12.000 verschiedene Titel auf 690 Seiten. Ein Ende 1914 /Anfang 1915 erschienener 180 Seiten starker Nachtrag lässt Rückschlüsse auf die Musikvorlieben zu Beginn des Weltkriegs zu. Denn die Notenrollen-Produktion reagierte auch sofort auf historische Ereignisse wie etwa „100 Jahre Befreiungskriege“ 1913 oder den Ausbruch des Weltkriegs 1914.
2. Gesellschaftliche Relevanz in Österreich
Das Klavier als Instrument des Bürgertums und die Pflege von privaten musikalischen Aktivitäten hatten eine wichtige Funktion im Gesellschaftsleben. Die Phonola war aufgrund der vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten als Klavier, als Abspielgerät für Notenrollen und als Kammermusikinstrument wie dafür geschaffen. Die Zielgruppe, das gehobene Bürgertum, wurde bewusst von Hupfeld in seinen Werbeeinschaltungen angesprochen.
Ein Phonola-Pianino war etwas teurer als ein gutes Klavier, es wurde 1913 ab 1.550 Mark (heute: ca. 6.500 Euro) je nach Ausführung angeboten – „Diese Preislage macht das Phonola-Piano zum Gemeingut aller Musikliebenden“ (Werbung in „Die Woche“ 1913). Eine Notenrolle kostete 1914 zwischen 7 und 11 Mark (= heute: ca. 28 bis 45 Euro).
Die Beliebtheit und große Verbreitung von selbstspielenden Klavieren zeigt auch der Auszug aus der Liste der Käufer, mit der Hupfeld warb, und die sich wie ein „Who is Who“ der Gesellschaft um 1914 liest. Phonola-Besitzer waren dieser Liste zufolge u.a. Erzherzogin Isabella von Österreich, der österreichische Staatsmann Ernest von Koerber, der Dirigent Felix von Weingartner und der Direktor der Theaters an der Wien, Karl Matthias Wallner ebenso wie der Jockey Klub Wien und die Theresianische Militär-Akademie.
Klavierspielinstrumente wie die Phonola standen bis in die 1920er Jahre im Blickpunkt der musikinteressierten Öffentlichkeit. Phonola-Konzerte gehörten durchaus zum üblichen Konzertbetrieb und waren ein fester Bestandteil des öffentlichen Musiklebens.
In der Hupfeld Niederlassung in Wien auf der Mariahilferstraße wurden wöchentlich Phonola-Konzerte abgehalten (z. B. 1912, 1913). Elektrische Phonolas sorgten für Unterhaltung in Gaststätten, Restaurants und Hotels.
Hinweise in der Literatur der Zeit zeigen wie sehr Klavierspielinstrumente und Orchestrions im Alltagsleben vor 100 Jahren integriert waren, so z. B. Anton Kuh „Das Automaten-Buffet“ („…alle Erfindungen der Neuzeit sind beisammen – Automat, Phonola…“) (1918) oder Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“ („…Berlin. Weinrestaurant… man hört ein Orchestrion…“) (1919).
Selbstspielende Klaviere befanden sich auf den Dampfern des Österreichischen Lloyd, so z. B. auf der für Vergnügungsfahrten eingesetzten Yacht „Thalia“ und dem Shanghai-Eildampfer „Körber“, der im Ersten Weltkrieg von England beschlagnahmt wurde. Auch das deutsche Linienschiff S.M.S. „Deutschland“ hatte bei seiner Südpol-Expedition eine Phonola mit an Bord.
Sogar auf Kriegsschiffen im Ersten Weltkrieg sorgten Phonolas für Ablenkung, wie etwa auf dem Deutschen Panzerkreuzer S.M.S. „York“ und dem österreichisch-ungarischen Kriegsschiff „Arpad“.
3. Patriotische Musik
Deutsche und österreichische Nationallieder, Volkslieder, Studentenlieder und patriotische Melodien waren seit den Befreiungskriegen 1813 und den nachfolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen Teil der Identität und im öffentlichen Leben allgegenwärtig. Ürsprünglich über Notenausgaben und Liederbücher verbreitet, kamen die Melodien auch auf Notenrollen gestanzt heraus.
1913 wurde der Befreiungskriege mit Publikationen und Veranstaltungen gedacht und Hupfeld produzierte zu diesem Anlass eine Notenrolle mit 9 Musikstücken der Zeit: „Erinnerung an 1813. Potpourri beliebter Vaterlandslieder“.
Militärmusik und Märsche, von Militärmusikkapellen verbreitet, erfreuten sich großer Beliebtheit bei der Bevölkerung und wurden daher auch von den Erzeugern von Mechanischen Musikinstrumenten umgesetzt (so wirbt z. B. 1913 eine Wiener Annonce für Orchestrions mit Militärmusik, in „Lehmanns Branchenverzeichnis“).
Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellten sich Komponisten, Texter und Verleger in großer Eile auf die Produktion kriegsverherrlichender und nationaler Lieder um. Naheliegenderweise bediente man sich patriotischer Gesänge aus der Zeit der Befreiungskriege und davor (z. B. „Prinz Eugen-Lied“) sowie der Militärmusik, die nun für Propagandazwecke eingesetzt wurden – und Musik musste auch als nationales Symbol herhalten, wie z. B. „Die Wacht am Rhein“.
Eine musikalische, programmatische Umsetzung des Weltkriegs veröffentlicht mit Inhaltsangabe und Melodieangaben liegt mit der Notenrolle „Hupfelds Original Tongemälde Weltkrieg 1914“ vor. Darin sind 24 patriotische Melodien (Choräle, Volkslieder, Vaterlandslieder aus den Befreiungskriegen sowie ältere und neuere patriotische Musik, Soldatenlieder, Märsche, Nationalhymnen) in einen textlichen Zusammenhang gestellt und in lautmalerischem Klavierarrangement gesetzt.
Die Produktion von Notenrollen mit patriotischer Musik, Militärmusik und Märschen stieg mit Ausbruch des Weltkriegs rapide an, das waren neue und ältere Musikstücke die sich für Propagandazwecke anboten, wie der Ende 1914/Anfang 1915 erschienene Nachtrag zum Hupfeld Notenrollen-Katalog für Phonola 73 zeigt: Unter der Rubrik „Militär- und sonstige Märsche“ sind 61 Titel verzeichnet, darunter „Erzherzog Albrecht-Marsch“ (Komzak, 1887), „Deutschmeister Regiments-Marsch“ op. 6 (Jurek, 1893) und „In der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn. Liedermarsch“ (Lindemann, 1914). Auch die Rubriken „Deutsche Volks-, Studenten- und Vaterlandslieder“ und „Österreichische Musik“ – letztere nennt Titel wie „Wien du Stadt meiner Träume“ (Sieczynski, 1914), „Mei Muatterl war a Wienerin“ (Gruber, 1908) und „Wiener Volksmusik“ (Komzak, 1914) – geben Hinweise zum Musikgeschmack zu Beginn des Weltkriegs.
4. Zur Bedeutung von Unterhaltungsmusik
Musik kam im Ersten Weltkrieg auch die Aufgabe der Tröstung, Unterhaltung und Ablenkung zu, sie sollte an Werte wie das Schöne und an Normalität erinnern.
Richard Specht schreibt dazu in „Die Musik im Krieg. Wien“ im Oktober 1914 („Der Merker“, 1914): „Niemals ist das Befreiende, Beflügelnde, Entführende der Musik stärker empfunden worden als in diesen Tagen; niemals die Sehnsucht nach ihrer Botschaft intensiver gewesen. “
Der Unterhaltungsmusik fiel zwischen 1914 und 1918 vermehrt die Aufgabe der Ablenkung zu. An Operetten-Uraufführungen in Wien gab es z. B. von Kalmán „Die Czardasfürstin“ (1915) und „Die Faschingsfee“ (1917), von Eysler „Der lachende Ehemann“ (1915) sowie von Berté/Schubert „Das Dreimäderlhaus“ (1916) – die Melodien daraus sind sofort auf Notenrolle gestanzt worden. Ebenso populär waren identitätsstiftende Wienerlieder, wie z. B. von Komzák „Wiener Volksmusik Potpourri“ (1914), Sieczynski „Wien Du Stadt meiner Träume“ (1914), Stolz „Wien wird bei Nacht erst schön“ (1914) und Benatzky „Ich muß wieder einmal in Grinzing sein“ (1915).
Mit dem Eintritt Amerikas in den Krieg 1917 gelangten auch amerikanische Tanzschlager nach Europa, die gleichzeitig auch populäre patriotische Songs waren, wie z. B. der Foxtrott „Smiles“ von Roberts (siehe: Phonolamusic CD „Tanzmusik Hits der 1910er & 20er Jahre“). Der populärste Song der Amerikaner im Ersten Weltkrieg war allerdings der Foxtrott „Over There“ von Cohan, auch dieser fand sofort auf Notenrolle Verbreitung.
Text: Isabella Sommer, Wien: copyright 2013